Lebensträume

DSCN0782Ein Huhn auf dem Rücksitz eines Wagens. Verwirrt, aber am Leben. Entkommen aus einer Legebatterie, gerettet von der Frau am Steuer, kostspielig operiert von einer Ärztin, die sich mit Tumoren im Innenleben eines Huhns auskennt, auf dem Weg in ein richtiges Leben, das diesem Huhn bisher verwehrt worden ist, weil es zu nichts anderem, als zu einer Legemaschine gezüchtet worden ist, die unermüdlich gelegt, gelegt und gelegt hat – ein Ei nach dem anderen, bevor es sein Leben unter einem Halsschnittautomaten  beenden sollte. Maschinen werden durch Maschinen vernichtet. Das scheint zu passen.

Hilal Sezgins beschreibt in ihrem Buch Tierleben ihre verrückte Zuneigung zu einem Huhn, die zu etwas geführt hat, worüber viele den Kopf schütteln würden – zu dessen Rettung.

Da ist also dieses Huhn, das keinen Wurm kennt, kein Scharren in der Erde, kein Bad im Sand und das nun ein Stück Glück finden darf, weil jemand entschieden hat, (in diesem Fall die Autorin), dieses Huhn ist es wert, weil es ein Huhn ist, nur deshalb. Nicht, weil es ein preisgekröntes Huhn ist. Nicht, weil es dafür, von wem auch immer Anerkennung gibt. Nicht, weil man so viel Gemeinsames erlebt hat. Einfach nur, weil es diesem Huhn gelungen ist, dem Schlachten auf dem Hühnerhof zu entkommen und auf jemanden zu treffen, auf dessen Rücksitz es sich jetzt befindet.

Sezgins beschreibt die Diskrepanzen die wir erschaffen haben, in der Art, wie wir Leben wahrnehmen und bewerten und letztendlich hinnehmen, als wäre es von Anfang an so gegeben. Da gibt es nicht mal ein Innehalten, ein kurzes Stutzen, so sehr haben wir uns an unsere eigene Anschauung diesbezüglich gewöhnt. So sehr, dass es den meisten nicht mal auffällt. Ich würde sagen, auffallen darf. Denn, wenn wir es tatsächlich bemerken, nein wirklich buchstäblich betrachten würden, müsste es uns beschämen und an unserem eigenen Menschsein zweifeln lassen. Da fahren zwei Turnierpferde in einem feudalen Pferdemobil auf derselben Straße, wie der Transporter mit den gnadenlos zusammengepferchten Schweinen, deren Schnauzen versuchen etwas Sauerstoff durch die Ritzen zu ergattern. Die einen umhegt, gepflegt und geliebt, die anderen geplagt und gequält, todesgeweiht. Was macht die einen kostbarer als die anderen? Was erlaubt uns, das Wegsehen und Ignorieren von Wesen, die sich nicht ähnlicher sein könnten. Der Wert, den wir ihnen beimessen, macht sie zu Seelen oder zur anonymen Fleischmasse. Sezgins macht, ohne den erhobenen Zeigefinger, auf unser anmaßendes Verhalten aufmerksam, Lebenwesen so unterschiedlich zu bewerten und ihnen damit Achtung, Würde und Lebensrecht zu nehmen.

Ich denke an die Geschichte mit dem Huhn, während aktuell die Diskussion über verzweifelte, flüchtende Menschen in schwankenden Nussschalen geführt wird. Das große Meer. Die einen unterwegs ins Leben, die anderen dem Tot ganz nah oder auf dem Weg dorthin. Menschen wie wir. Mit Träumen und Sehnsüchten, mit Angst und Schmerz im Schlepptau. Wir beobachten aus der sicheren Ferne. Weit genug weg, um uns nicht zu gefährden und doch so nah, dass es nur schwer gelingt wegzuschauen. Wenigstens für einige Momente. Ich spüre ja selbst den Impuls, die Augen fest zu schließen, so zu tun, als ginge es mich nichts an, mich nicht zu sehr berühren zu lassen, weil ich ja eh nichts tun kann, weil das Problem ja  viel zu groß ist, wem ganz anders gehört und ich es abschütteln möchte, wie ein unangenehmes Insekt, dass mir über die Hand krabbelt. Wie mich diese Freiheit erleichtert, dass ich mich entscheiden kann, die Nachrichten nicht zu schauen, die Zeitung nicht aufzuschlagen, die Diskussionen nicht zu verfolgen – dass ich die Tür öffne und in den Garten gehe, meine Hände in die Erde grabe, die Katze streichle, den duftenden Kaffee aufsetze und daran denke, wie unerhört schön das Leben doch sein kann.

Das Turnierpferd, macht sich schließlich auch keine Gedanken über den Schweinetransporter. Und wo soll es auch hinführen, wenn wir plötzlich alle Schweine und Hühner freilassen würden? Die würden uns ja schier überrennen. So viel Platz haben wir gar nicht. Und überhaupt, was essen wir dann noch? Wer soll das alles bezahlen? Wir kommen da nicht raus.
Aber woher kommt dann der bittere Nachgeschmack, der nicht verschwinden will.

Niemand sagt, dass die Lösung einfach ist.

Ich bin ganz sicher, wenn mehr Menschen in Hühnerfarmen und Schlachthöfen vorbeischauen, und ein Huhn dabei beobachten, wie es ihm panisch gelingt, sich vor dem Griff der Häscher zu verstecken, und wir seinem verzweifelten Blick nicht ausweichen, dann gäbe es das eine oder andere Huhn mehr auf dem Rücksitz eines Autos. Und dann wäre da auch Hoffnung, für unsere eigene Spezies.

W

„Nein, da gibt es keine Rechnung, die aufgeht, da steht kein großer Plan dahinter. Dieses kleine Leben hier, immerhin dieses haben wir erst mal sicher!, sagt man sich und findet, als Grund zur Freude ist das für heute genug.“  Hilal Sezgins

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